1. Kapitel
Ich blicke auf den Boden und versuche, gegen die aufkeimende Übelkeit anzukämpfen. Ich hasse diesen Ort seit ich ihn das erste Mal betreten habe, und doch muss ich immer wieder hierher. Ich kann natürlich wechseln, klar, aber was würde mir das bringen? Eine andere Schule mit lauter Fremden, nervenden reichen Leuten, die sich für etwas Besseres halten, nur weil Mum und Dad zu Hause ein überquellendes Konto besitzen. Hier wird das Ansehen nur nach den schimmernden kleinen runden Scheiben berechnet, anders ausgedrückt Geld. Nicht nach Intelligenz oder Geist. Das sind für die Hälfte der Pinkel hier sowieso Fremdwörter. Ich möchte deren IQ gar nicht erfahren. Fünf? Ich habe gehört, ab 6 fangen Schweine an zu Grunzen.
Und trotz all dieser Argumente wie dumm und einfältig diese Schüler hier an der Schule sind, habe ich nichts Besseres zu tun, als mit ihnen in eine Klasse zu gehen. Das mag jetzt komisch rüberkommen, besonders wenn ihr denkt
aber Schule ist doch total wichtig und
du kannst doch noch gar nichts mit deinem Leben anfangen und so. Aber wisst ihr was? Ich wiederhole die Schule, genauer gesagt die zehnte Klasse. Nicht weil ich dumm bin oder schlechte Noten habe, nein. Es ist nur… letztens erst ist mein Dad gestorben und… Naja, da war ich ne Zeit lang, um es einfach auszudrücken, nicht da.
Die Glocke schrillt, ein kreischender, metallisch Scheppernder Ton in dem stinkenden, kleinen Klo. Ich atme tief ein, tief aus. Öffne die Toilettentür und gehe betont langsam die Treppen hoch, aus dem feuchten, dunklen WC, ins weiß gestrichene Klassenzimmer direkt darüber (ja, wir haben eine Toilette direkt im Klassenzimmer). Viel zu schnell stehe ich vor der Tür. Noch kann ich umdrehen… noch. Ich lege meine Hand auf den Türgriff und bin dabei, ihn runterzudrücken, als die Tür nach innen aufgerissen wird und ich mit ihr.
Ich fliege gefühlte fünf Meter bevor ich auf den Boden knalle und mit dem Kopf meinen Sturz abbremse. Aua. Super Schulstart.
Ein Knacken hallt in meinen Schädel wieder. Meine Nase ist bestimmt gebrochen. Stechender Schmerz bohrt sich in meinen Schädel und ich halte meine eine Hand vor die Nase, halb stehe, halb knie ich auf den Boden. Warmes, heißes Blut läuft aus meiner Nase in Richtung Mund. Widerlich, dieser metallische, rostige Geschmack. Meine Nase pocht im Rhythmus mit meinem Kopf.
Plötzlich schnürt sich mein Hemd um meinen Hals zusammen. Irgendjemand zieht mich daran auf die Beine, meine Luftröhre ist wie zugeschnürt. Direkt neben meinem Ohr grölt jemand: „Hey Ashlen, was machst´n du auf´m Boden Alter?“
Ich würge und klammere mich an mein Hemd, welches mir noch immer die Luft abschnürt. Ich höre ein verräterisches Reißen – und falle nochmal. Diesmal kriege ich rechtzeitig eine Hand nach vorne und fange den Sturz ab. Hustend hole ich Luft, während ich auf die Füße komme. Die Knöpfe meines Hemdes, was ich eigentlich nur Mum zuliebe trage, liegen auf dem Boden. Eine seite ist beinahe völlig abgerissen und hängt mir über der Hüfte. Ich stehe oben ohne in einem Klassenzimmer mit den Menschen, die ich am meisten hasse auf der ganzen Welt.
Stille.
Ich frage mich selbst:
The same procedure as every day, Ashlen? Dann dröhnt von allen Seiten Gelächter, die Mädchen kreischen, die Jungen grölen, Schultern werden geklopft, Hände geklatscht, die Tür wird aufgerissen – und Mrs. Dareth kommt herein. Sofort wird es wieder still, diesmal aber anders; eine gespannte Stille, wo alle darauf erpicht sind, wie Mrs. Dareth auf meinen Aufzug reagieren wird. Nur nicht ich. Ich wäre überall gerne, als Leiche im Leichenhaus, in einem brennenden Aufzug, in der Safari umzingelt von einer Gruppe Löwen – nur nicht hier.
Einen Augenblick lang bleibt der alten Hexe die Spucke weg. Dann setzt sie ihr
absolut böses Gesicht auf. „Ashlen Grath“, keift sie während sie etwas auf ihren Notizblock kritzelt, „dies wäre dann der dritte Verweis. Geh damit zum Rektor, damit er deine Mutter anrufen kann. Wir werden dich dieses Jahr hier NICHT MEHR SEHEN!“ Beinahe beeindruckt sehe ich die Speichelfäden die aus ihrem Mund fliegen zu, wie sie langsam auf den Boden sinken. So musste es ja kommen. Denkt jetzt nichts Falsches von mir. Jeden Tag passiert so etwas nicht, aber… irgendwie habe ich das Gefühl, dass nichts mehr normal ist oder gar alltäglich.
„Yeah, the same procedure as every day“, murmle ich, als ich mich an ihr vorbeischiebe und das Klassenzimmer verlasse. Nein warte. Wenn schon, dann richtig. Ich ziehe mein Hemd aus und knalle es dem Idioten, der mich hochgehoben hat, ins Gesicht, mach eine Siegerpose mit dem Rücken zu meinem staunenden Publikum und lasse die Tür krachend ins Schloss fallen.
Das ist dass, was ich einen schlechten Tag nenne, mit ein wenig Zynismus und Galgenhumor. Ich liebe diese Tage. Im Sinne von: Es gibt ja keine anderen Tage für mich, also mach ich das Beste draus.
Damit ihr jetzt kein vollkommen falsches Bild von mir bekommt, stelle ich mich mal vor.
Ich bin Ashlon. Ich bin 15 einhalb Jahre alt.
Ich bin für mein Alter verbittert, verstehe Zynismus, Sarkasmus und Ironie besser als 99% meiner Klasse und habe einen siebten Sinn für theatralische Auftritte.
Mein Vater war Erfinder, Wissenschaftler und Politiker. Wir mochten uns wirklich gerne, konnten uns alles erzählen. Wir machten Männerabende, wo ich Filme ab 16 mit ihn ansehen durfte, er brachte mir Autofahren bei, vererbte mir seine Begeisterung für die Technik. Wir waren auch oft zusammen angeln, saßen Stundenlang in einem Boot und fingen trotzdem nur zwei Fische, aber es war uns egal, denn es war Zeit für uns. Und dann war es eines Tages einfach… vorbei. Sein Körper wurde ermordet aufgefunden, alles ging so schnell; die Trauerfeier, die drei schwarzen Monate danach, und dann wurde von mir erwartet, dass ich meine Verbitterung darüber, dass sie den Mörder nicht gefasst hatten, aufgebe; dass ich wieder lächelnd durchs Leben gehe und fröhlich bin; dass ich aufstehe und weitermache wie bisher, so als ob… so als ob nichts gewesen sei.
Du kannst gar nicht verstehen, wie Wütend und Zornig ich in der Zeit war; wie oft ich mich geprügelt hatte, um wenigstens einen Teil der Trauer loszuwerden. Ohne Will wäre ich wohl zu nichts geworden. Aber er gab mir ein Ziel. Der Typ, der Computerfreak, zu dem ich auch gerade unterwegs bin. Mein bester Freund in der Phase der Trauer und auch danach. Mein einziger Freund. Von Mum hört ihr später noch genug… Für diesen Augenblick hatte ich genug belastende Gedanken.
Das, was ich wirklich klasse finde an meiner Schule, ist, dass Will nur zwei Straßen weiter wohnt. Zuerst bekomme ich ein neues Hemd. Seufz.
„Ash, warum brichst du dir eigentlich immer die Nase?“, fragte Will kopfschüttelnd und wendete für ein paar Sekunden seinen Blick von dem Bildschirm, um mein geschundenes Gesicht zu begutachten. „Wofür habe ich einen Erste-Hilfe-Kurs belegt, wenn du immer nur mit dem gleichen Scheiß ankommst?“
Ich muss lachen.
„Tut´s weh?“, frag er und grinst.
„Nur wenn ich meinen Kopf bewege“, grummle ich.
Will ist einen Kopf größer als ich und hat kurze, schwarze Locken und eine Nerdbrille. Das sind seine Markenzeichen, abgesehen von den beinahe unnatürlich wirkenden, hellgrauen Augen und seinen vielen Sommersprossen, die angeboren sein müssen. Ich glaube nicht, dass er oft in die Sonne geht. Wenn er vor dem Bildschirm Sonne abbekommen würde aus irgendeinem Grund, würde seine Haut schon die Farbe eines Afro-Amerikanern haben.
Er wendet sich wieder seinen Bildschirm zu. „Schieß los, Kumpel. Was liegt dir auf dem Herzen?“
Ich bin nicht schwul. Dass das mal klar ist. „Ich habe heute meinen dritten Verweis bekommen. Sollen wir das feiern?“
Will grinst. Er ist so alt wie ich, und wird finanziert von einem Agentenbüro – auf jeden Fall ist es das, was er mir erzählt. Bei Will darfst du ihm nur glauben, wenn er Ernst ist. Dann wird er beinahe unheimlich konzentriert und fokussiert etwas ganz Bestimmtes an. Das ist echt unheimlich, aber es kommt nicht oft vor. Das mit dem Agentenbüro war also auf jeden Fall gelogen, denn er hat es mir am Telefon erzählt. Und er telefoniert nie, wenn er ernst ist.
„Ich bin jetzt so gut wie draußen“, sage ich jetzt etwas schwungvoller und knete mein Kinn. „Ich glaube, ich studiere Kriminalität und Technik. Eine der wenigen Dinge, die mich wirklich interessieren. Und wenn ich die mit Geld bestechen muss, damit ich´s darf.“
Will blickt mich nachdenklich an und sagt nach einem Augenblick: „Ich kann dir dabei nicht helfen, denn ich hab´s mir einfach gemacht. Aber was du auch wählst, ich bin ziemlich zuversichtlich, dass es dir gefällt. Du bist kein Typ der halbe Sachen macht, Ash.“
Will wendet sich wieder seinem Computer zu und gibt irgendwelche Codes und Schlüssel ein. „Hast du heute Zeitung gelesen?“
„Nein“, sage ich gelangweilt und setze mich zu ihm. „Wieso? Stand mal wieder was über meine Mutter drin?“
Will scheint sich plötzlich sehr unwohl zu fühlen. Er kratzt sich am Nacken und kaut auf seinem Kugelschreiber herum. „Will was ist los?“, frage ich angespannt und versuche, ihm in die Augen zu sehen. Er weicht mir aus.
„Es… Es geht um deinen Vater. Hier…“ Er reicht mir die Zeitung von Heute und tippt auf einen kleinen Kasten.
Meine Augen huschen über die Worte, die dort stehen.
37-jähriger Mann an den Silverline-Docks erschossen
Gestern Abend um 23:19 Uhr wurde eine Leiche von einem Matrosen in einem Container entdeckt. Es handelte sich hierbei um Mr. Creeve Wishtor. Der Mann wurde mit drei Schüssen in den Kopf getötet, ungefähre Todeszeit war 22:34 Uhr. Es gibt Verdächtige, momentan wurde allerdings nichts Genaueres bekanntgegeben.
„Was soll das mit meinem Vater zu tun haben?“, frage ich irritiert und reiche Will die Zeitung.
„Dein Vater ist vor knapp einem Jahr gestorben und Creeve Wishtor hat die Firma von ihm übernommen. Und jetzt stirbt er auch, kaum ein Jahr danach. Das ist kein Zufall, zudem er auf dieselbe Art und Weise umgebracht wurde. Sie wurden sogar an demselben Platz versteckt.“
Mir wird schlecht. Mein Vater als Leiche in einer Mülltonne neben stinkigem, ranzigem Abfall. Kurz überkommt mich Wut und diese Ohnmacht, dieses schreckliche Gefühl der Machtlosigkeit. Ich spanne meinen Körper an und atme tief durch. „Was… was willst du mir sagen?“, frage ich angespannt.
Will tippte etwas auf seiner Tastatur. „Ich dachte mir, dass da vielleicht mehr läuft“, sagte er beinahe beiläufig, während er an etwas schraubte. „Vielleicht ging´s gar nicht um deinen Dad. Sondern um etwas Größeres, vielleicht die Firma – oder etwas darin.“
Ich schnaufe abfällig. „Das wäre rausgekommen, das wäre-“ „Was?“, unterbricht mich Will, wendet sich von seinem Bildschirm ab und blickt mir in die Augen. „Unlogisch? Der Mörder wurde nie gefasst, oder?“
Ich verdecke meine Augen, versuche das Gefühl der Hilflosigkeit zu verdrängen, die mich allzu lange gefangen gehalten hatte.
„Er konnte nie Aussagen“, sagte Will ruhig. „Hey, Ash.“ Ich nehme langsam meine Hände herunter und blicke ihn wiederstrebend an. „Vielleicht können wir was herausfinden.“
Er seufzt schwer. „Ich kenne deine Wut“, sagte er langsam und traurig. „Ich kenne deine Verzweiflung. Ich glaube, es könnte dir helfen wenn du… wenn du den Grund kennen würdest. Wenn der Mörder vor Gericht stehen könnte. Ich glaube… es wird wirklich helfen.“
Ich seufze und setze mich neben ihn, blicke auf die vielen blinkenden Bildschirme in dem dunklen, kleinen Raum. "Was schlägst du vor?"