Ich schlidderte um die Ecke und rutschte beinahe auf den nassen Pflastersteinen aus.
Ich sah mich um und hielt den Atem an, aber nach einer Weile musste ich wieder keuchend Luft holen.
Das Geräusch von klappernden Dosen nicht weit von mir verriet ihn. Trotz protestierender Lunge sprintete ich auf das Geräusch zu und schreckte ihn wohl auf, denn er sprang auf eine niedrige Mauer und auf der anderen Seite wieder auf die Straße.
„Jetzt warte doch endlich mal!“, rief ich und kletterte eher unbeholfen hinterher.
Aber ich hatte ihn aus den Augen verloren.
„Shit!!“, fluchte ich und trat einen losen Pflasterstein beiseite.
Ich wollte dem Jungen helfen. Mir wurde peinlich bewusst, dass sich in mir sowas wie Mutterinstinkte gerührt hatten, als ich ihm vor einer Woche begegnet war.
Ein Keuchen ließ mich herumfahren.
Er lehnte schwer atmend in der Ecke bei ein paar Mülltonnen und sah bissig zu mir herüber.
Ein triumphierender Hauch lag in meinen Gedanken. Sackgasse!
„Wer bist du?“, fragte ich und fuhr mir flüchtig durch die Haare.
„Warum sollte ich dir das beantworten, he?“, schnaufte er.
„Feigling“
„Ich bin kein Feigling!“
„Du bist weggerannt. Vor einem Mädchen!“
Er schien etwas erwidern zu wollen, doch er klappte den Mund wieder zu.
Eine Weile des Schweigens und des still-Ansehens verging.
„Bastian.“
Ich sah auf. So hieß er also. „Wie alt bist du?“, hakte ich nach.
„15.“
„Wie lange lebst du schon auf der Straße?“
„Seit knapp ein ein halb Jahren.“
Ich schaute ihn mitleidig an.
„Keine Sorge. Ich komm gut klar.“ Der bissige Unterton ließ mich zusammenschrecken.
„Fertig? Ich hab keinen Bock mehr“, keifte er, während er sich umdrehte und an mir vorbeilief.
Ich rang mit mir. „Warte!“ Ihn am Arm zu packen war ein Fehler. Er schlug meinen Arm weg und stoppte mit der flachen Hand knapp vor meinem Gesicht.
„Fass mich nicht an!“ Jedes der betonten Worte ließ mich zusammenzucken.
„Ok… Tut mir leid…“ Beschwichtigend hob ich die Hände.
Er sah mich eine Weile an. „Was willst du eigentlich von mir?“, fragte er dann kopfschüttelnd und ließ die Hand sinken.
„Ich will dir helfen…“ Ich senkte den Blick.
„Helfen?? Wie denn?“ Er lachte verächtlich auf. „Glaub mir, helfen kannst du mir nicht.“
„Kannst du lesen?“
„Ja.“
„Schreiben?“
„Ja.“
„Re-“
„Ja, verdammt, ich war in der Schule, Mann!“
„Oh, klar, ich vergaß…“ Das war peinlich gewesen. Ich betrachtete ihn als hilflos und ungebildet. Dabei war er das wahrscheinlich gar nicht.
„Du brauchst ein Dach über dem Kopf.“
„Ach ne! Hätt ich nicht gedacht!“
Ich seufzte.
„Celine?? Celine??“
Ich erschreckte mich. Das war Marie.
Wie ein Tier zuckte Bastian zusammen und sah sich um.
„Ich hab echt keinen Bock mehr!“, fauchte er und setzte sich endgültig in Bewegung.
„Warte! Wo… wo bist du immer??“
„Was weiß ich…“
„Komm schon!“
Unwillig blieb er nochmal stehen.
„Warum?“
„Sag einfach.“ Ich ließ die Schultern hängen.
Er seufzte resigniert. „Morgen… Auf dem Parkplatz hinterm Zentrum… Bin eigentlich den ganzen Tag dort.“
Er sah mich an.
Ich nickte. „Geht doch.“
Dann war er weg.
„Celine!“ Keuchend legte mir Marie die Hand auf die Schulter.
Ich japste auf und sah sie an.
„Was war los??“
„Ähm… Nichts Schlimmes… Ach... Keine Ahnung!“
Sie sah mich ungläubig an.
„Wir sollten zurück… Bald ist wieder Abfahrt.“

Schon im Bus wurde mir bewusst, dass ich ein Problem hatte.
Wie sollte ich morgen in die Stadt kommen? Meine Mutter würde mich fragen, warum, und ich hatte keinen Grund, den sie hinnehmen würde. Außerdem wollte sie morgen mit mir zu einer Freundin..
Ich biss mir auf die Unterlippe.
Scheiße!!, dachte ich wütend und verkrampfte die Hände zu Fäusten.
„Hey, Celine, alles okay?“, fragte mich Marie.
Schnell sah ich auf und entspannte meine angespannten Muskeln.
„Ja, alles super!“, log ich schnell.
Ich zermarterte mir den Kopf.
Mit Marie konnte ich mich nicht treffen. Die hatte keine Zeit..
Aber…
Nein!, ermahnte ich mich. Dennoch war die Vorstellung verlockend.
Ich könnte sagen, dass ich mich mit ihr treffe.. Eine kleine Notlüge war doch sicher nicht so schlimm.
..Oder?
Die ganze Busfahrt lang plante ich, wie ich meine Mutter am geschicktesten dazu bringen könnte, es mir zu erlauben.
Ich konnte nur hoffen, dass ich gut geplant hatte.

„Nein, Celine. Wir treffen uns Morgen mit Kerstin und Hannah. Und das weißt du“, erklärte Lea und trocknete eine Tasse, die sie soeben aus der Spülmaschine holte, mit dem Küchenhandtuch ab.
„Bitte! Nur ganz kurz, wir wollen nur ins Café!“
„Bei dem Wetter? So kalt wie es draußen wird..?“
„Wir wollten eine heiße Schokolade trinken. Ein paar Pfannkuchen essen.“
„Wir essen bei Kerstin.“
„Dann halt ohne Pfannkuchen!“
Lea stellte die Tasse in den Hängeschrank.
„Bitte!!“
Lea seufzte. „Du warst in den letzten zwei Wochen doch schon zweimal in der Stadt! Was habt ihr denn bei euren Schulausflug gemacht?“
„Ein Museum besichtigt“, meinte ich schnippisch und verschränkte die Arme.
„Und in der freien Zeit?“, hakte meine Mutter nach und räumte ein paar Teller weg.
„Freie Zeit?“ Ich versuchte unwissend zu tun.
„Die Mutter einer deiner Mitschülerinnen hat mir davon erzählt, weil sich ihre Tochter den Fuß verknackst hat. Ich hatte gefragt, warum die denn früher abgeholt werden musste und ihre Mutter erzählte mir, dass sie in der freien Zeit beim Schulausflug umgeknickt sei. Tu nicht so, als wüsstest du nicht, dass ihr in Gruppen rumlaufen durftet, Celine. Ich mag es nicht, wenn du lügst.“
Ich biss die Zähne zusammen. Scheiße! Ich hatte weniger bedacht, als ich mir erhofft hatte.
„Und wenn ich dir was mitbringe?“
„Bestechung zieht nicht, Schatz.“ Lea räumte das schmutzige Geschirr ein. Ich lehnte mich an die Theke und überlegte fieberhaft.
„Warum lässt du mich nicht gehen?“, fragte ich dann unvermittelt.
„Wir treffen uns mit Freunden.“
„Und wenn ich pünktlich zurück bin?“
„Nein, Celine.“
„Das ist keine Antwort auf meine Frage.“
Genervt drehte sie sich zu mir um.
„Bitte, Mama! Zwei Stunden?“
Sie verdrehte die Augen, stöhnte resigniert und klappte die Spülmaschine zu.
Ja!!
„Danke, Mama!“, meinte ich, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sprintete die Treppe hoch in mein Zimmer.
Meinen Freudensprung tat ich so leise wie möglich.

Der Bus hielt und ich stieg aus. Kühle Novemberluft schlug mir entgegen, es nieselte mal wieder und die feinen Tropfen taten sich zu einem luftigen Nebel zusammen.
Ich sah mich um.
Das Zentrum.. Es lag zu meiner Linken, soweit ich mich erinnerte. Ich schob meine Busfahrkarte in die Hosentasche. Auf meinem Sitz in der hintersten Reihe hatte ich die ganze Zeit nervös daran herumgezogen. Die Plastikhülle war eingerissen.
Ich hatte keine Tasche dabei. Nur meine dünne Stoffjacke, deren Reißverschluss ich jetzt zuzog, und mein Portemonnaie, das glücklicherweise dünn genug war, um unauffällig in meine Hosentasche gestopft werden zu können.
Meine Schritte waren eilig. Um halb drei wollte meine Mutter, dass ich wieder Zuhause war. Jetzt war es kurz nach zwölf.
Der Platz mit dem Brunnen war noch halbwegs leer. Ich fand, dass meine Schritte auf dem Pflaster zu laut für die Stille klangen.
In einem Vodafone- Laden sah ich auf die Uhr. 12:14 Uhr.
Das Zentrum, ein ziemlich hohes Gebäude mit vielen, vielen Läden darin, kam in Sicht. Mein Herz tat einen kleinen Sprung. Gleich würde ich.. wie hieß er noch? Ach ja, Bastian.
Gleich würde ich ihn wiedersehen.
Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte ein weiteres Mal, um noch vor einem Auto über den Zebrastreifen zu flitzen.
Ich verfolgte Aufmerksam die Schilder am Straßenrand.
 -->Platz zum Brunnen
<--Zentrum Eingang
 -->Kinopolis
<--Zentrum Parkplatz
Ja! Ich bog links ein.
Parkhaus… Außenparkplatz!
Dieser war relativ leer.
Ich blickte mich um.
Gruselige Stille umgab mich. Ich schluckte.
Nur ein Parkplatz, sagte ich mir und mein Puls beruhigte sich, vielleicht auch, weil ich jetzt eher schlenderte, als wie eben im Laufschritt umher zu hetzen.
Ich sah niemanden.
„Bastian?“, rief ich zögerlich.
„Bist du hier?“ Ich kam mir dämlich vor. Ja, richtig bekloppt.
Ich rief nochmal seinen Namen.
Aber ich blieb ohne Antwort.

Marcels Gedanken rasten. Und sein Herz mit ihnen. Was zur Hölle tat Damien da?!
Er wollte ihn von sich wegdrücken, aber Damien hielt ihn fest und zog ihn eng an sich.
In Marcel kam alles wieder hoch.
Die Gefühle, der Schmerz, die Verbitterung, die Trauer.
Er drehte den Kopf weg. »Nicht..«, flüsterte er, denn mehr brachte er nicht heraus. Er schaffte es nicht, Damien anzubrüllen oder ihn zu schlagen, trotz der Wut auf ihn, dass er alles wieder hervorgeholt hatte.
Aber Damien winkelte sein Kinn an und küsste ihn erneut.
Und Marcel spürte, wie die Tränen in seinen Augen brannten.
Nicht weinen, nicht weinen!, sagte er sich, aber der Versuch, die Tränen wegzublinzeln, scheiterte und sie rannen seine Wangen hinab.
»Hör auf.. Damien..« Wieder schnitt er ihm das Wort ab.
»Damien, bitte..« Marcel hatte zu zittern begonnen. Bilder rauschten wie in einer Flut an seinem inneren Auge vorbei, Erinnerungen, Emotionen, die schrecklich schmerzten. Sein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Augenblick bersten.
Damiens Lippen waren warm und weich, sie versprachen tausend Dinge mit jeder einzelnen Berührung.
Marcel versuchte ein weiteres Mal, etwas zu sagen, aber da spürte er, wie er sich in Damiens Armen verlor und den Kuss zu erwidern begann.